Mit dem Orient-Express im Schneesturm nach Bukarest (im März 1973)
Eigentlich begann diese Geschichte schon bei der Einfahrt in Budapest. Auf dem Bahnsteig diskutierten die wartenden und frierenden Reisenden eine durch den ungarischen Rundfunk bekanntgegebene
Meldung: Das Zusammentreffen einer Warmluftströmung aus dem Mittelmeer- Raum und einer Kaltluftmasse aus der Ukraine hat heftige Schneefälle im Süden und Osten Rumäniens ausgelöst. Auf dem
Predealpass in den Südkarpaten sei die Schneedecke bereits auf 1,5 m Höhe angewachsen. In den östlichen Landesteilen gab es Schneeverwehungen bis zu 3 Meter. Windgeschwindigkeiten von 70 km/h sind
gemessen worden. Es muss mit Störungen im internationalen Eisenbahnverkehr und mit erheblichen Zugverspätungen innerhalb Rumäniens gerechnet werden. Das ungarische Land zeigte sich auf dem bisherigen
und weiteren Reiseverlauf als gänzlich schneefrei. Die ersten Anzeichen dieses späten " Schneewinters" machten sich östlich von Arad, also bereits in Rumänien, bei der Einfahrt in das
Siebenbürgische Hochland bemerkbar. Am 12 März 1973 fuhr auf die Minute genau der Orient-Express in den Bahnhof von Brasov (Kronstadt) ein. Die 060-DA Co+Co Diesel-Lokomotive schob den nunmehr seit 8
Tagen unaufhörlich anfallenden Schnee auf den kaum sichtbaren Schienen vor sich her. Neben den Gleisen hatten sich bereits lange Schneemauern gebildet. Pünktlich um 8.05 verlies der Zug mit den neu
Zugestiegenen den Bahnhof. Er bog in einer langen Kurve langsam in das hier beginnende Timisul Tal ein. Der monotone Schneefall schien sich hier zu verdichten. Die beiden grossen 060 EA Co+Co
Elektrolokomotiven mit einer Anfahrtleistung von je 10 000 PS begannen mächtig an zu arbeiten.
Die Fahrt ging an den tiefverschneiten Orten Dirste, Timisul de Jos, Timisul de Sus vorbei und dem 1000 m hohen Predealpass entgegen. In diesen Orten entdeckte man überall pelzbemützte schaufelde Menschen, die sich alle hinter mächtigen Schneewällen zu verbergen schienen. Hohe Schneemassen hingen und lagerten auf Baum und Strauch. Die Tannen hatten gewichtige dickwandige Schneemäntel umgelegt. Kleinvögel, ängstlich flatterd und piepsend, versuchten vergeblich in diesem Pulverschnee "Fuss zu fassen". Es schneite heftig und unentwegt weiter. Von den hier bereits hohen Bergen war nichts zu sehen. Kehrtunnel kam und bald darauf der Predealpass, Höhe mit gleichnamigen Ort. Der Schnee dämpfte die Geräusche, auch die unseres Zuges. Der vom Passwind schräg geblasene Schneevorhang nahm zeitweise jede Sicht. Fast lautlos, auf einem weissen Teppich fahrend, verliess unser Zug diesen von gewaltigen Schneemassen zugeschütteten Gebirgsort, von dem man sonst eine prächtige Aussicht auf die nahen und hohen Karpatenberge hat. Der Zug senkte sich und mit der einen verbliebenen Elektrolok fuhren wir hinab ins Prahova Tal. Busteni wurde durchfahren. Seine beeindruckende Bergkulisse verbarg sich im wallenden Schneegestöber. Schneestaub wirbelte auf, als wir in Sinaia kurz hielten. Unser Zug holte an Geschwindigkeit merklich auf. Schnell kamen wir aus der Hochregion herab. Es wurde heller, der Schneefall nahm ab und die Sicht drang bis zu den nächsten Waldbergen.D ie Landschaft schien, von der weissen Last etwas befreit, aufzuatmen. Schon näherten wir uns dem Gebirgsausgang und der hier beginnenden grossen Walachei. Cimpina wurde durchrast und in Ploesti West hielt der Zug nur eine Minute. Aller Voraussicht würden wir trotz dieses ungewöhnlichen Schneefalls fahrplanmässig um 10.24 in den Bukarester Nordbahnhof einlaufen. Gleich einem Kometenschweif hing an unserem dahinbrausenden Zug eine dichte Schneewolke.
Für einen außenstehenden Beobachter sicherlich ein phantastischer Anblick. Uns Mitreisenden wurde dabei die Sicht durch die Fenster genommen. Diese Sturmfahrt erschien uns allen ebenfalls etwas ungewöhnlich. Hierbei traten ab und zu unsanfte Rucke und zeitweilig harte Stösse auf. Offenbar prallten heftige Windböen gegen den vorwärts stürmenden Zug. Nach geraumer Zeit jedoch begann sich unser Tempo wesentlich zu verlangsamen. Hierbei wurde erkennbar, dass draussen tatsächlich ein beachtlicher Sturm sein Unwesen trieb. Wir wurden noch langsamer und nach mehrmaligem Zögern blieb der Zug mitten in einem wüsten Schneetreiben schliesslich ganz stehen. Vielleicht ein nicht planmässiger Halt auf einer kleinen, für uns namenlosen Station. Das Schneegestöber liess nichts sichtbares erkennen. In unserem vollbesetzten Abteil war es gemütlich und angenehm warm, aber dieses Anheimelnde konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir, ob des nun hier schon stundenlangen Haltens, unruhig in das unheimliche Treiben hinausstarrten. Ein Windstoss nach dem andern fegte an die D-Zug Wagen, die weiterhin unbewegt und fest wie angefroren standen. Wir mussten uns nach Lage der Dinge nun schon auf einen langen Aufenthalt gefasst machen. Es war 12 Uhr mittags, einige Insassen dachten ans Essen und alle an unsere längst verstrichene Ankunftszeit in Bukarest. Dann ein gewaltiger Ruck. Die bärenstarke Elektrolok riss unseren Zug aus den Fesseln der winterlichenUmarmung. Staunend begriffen wir, dass wir fuhren, wenn auch mit einem zögernden Dahinschleichen. Es hiess nach einem alten rumänischen Sprichwort " Besser schlecht gefahren, als gut gelaufen", doch dessen ungeachtet, fiel und fegte der Schnee weiterhin in dichten Schwaden daher. Nach allgemeinem Gutachten schätzten wir die hier bereits erreichte Schneedicke auf Tischeshöhe.
So bahnte sich der Zug langsam seinen Weg durch diesen winterlichen Aufruhr. Hier in der tellerflachen Ebene konnte man begreifen wie ein Schneesturm mit einem,sich mühsam vorwärts arbeitenden Zuge sein Spiel trieb. Und weiterhin stoben Schneewolken gegen die lange Wagenflucht, weiterhin pflügte sich die Elektrolok durch dieses wogende Weiss ihren Weg. Wir begannen zu ahnen, dass diese Fahrt nicht ihr normales Ende finden würde. So näherten wir uns durch dieses Gestürm sehr langsam und bedächtig dem Vorgelände der Landeshauptstadt. Dann kam ein Zeitpunkt, den wir eigentlich schon lange erwarteten. Unser Zug mit seinem berühmten Namen, in dieser blind gewordenen Welt, sich im Schritttempo vorwärts tastend, blieb ein zweites Mal und nun entgültig im tiefen Schnee vor Bukarest liegen. Die hochmoderne, riesige Elektrolokomotive, für härteste Bedingungen in Schweden konstruiert, hatte in diesem winterlichen Hexenkessel aufgegeben. Unberührt von dieser Tatsache tobte der wilde Flockentanz unaufhaltsam und mit ungebrochener Heftigkeit weiter. Der Himmel schien sämtliche Schneeschleusen geöffnet zu haben. Staunend stellten wir fest, wie sich da draussen diese Schneemasse von Minute zu Minute erhöhte. Für uns, den immer noch im Warmen Sitzenden, nun schon ein beklemmender Anblick. Wir Überrumpelten hatten nun genug von dieser Sensation, sie war längst gestillt und Sorge breitete sich aus, galt es doch bald selbst in dieses kalte Treiben hinabsteigen zu müssen. Irgendwie und irgendwann mussten wir unser nun unbehaglich gewordenes Gefängnis verlassen können. Dann, wie auf höheren Befehl, hörte das wütende Schneetreiben für kurze Zeit schlagartig auf. Wir staunten und atmeten auf. Das geöffnete Abteilfenster gab nun den Blick nach der Zugspitze frei. Dort erkannte man mehrere Menschengruppen.
Es waren Soldaten- und Frauen- Kolonnen,die sich bemühten unsere Elektrolok und umliegende Weichen von den Schneemassen frei zu schaufeln. Ich schaute auf meine Uhr, es war 3 Uhr nachmittags. In den Abteilen und Gängen wurde es lebendig. Bewegung kam in die ungeduldigen Reisenden. Angesichts des nun festsitzenden Zuges verliessen tatsächlich viele Leute auf eigene Faust die Wagen. Sie bahnten sich durch die hohe, noch unberührte Schneedecke Pfade und Gassen und versuchten jenseits des Schienengeländes gangbares Gebiet zu erreichen. Da es keinen Zugverkehr mehr gab und bis auf einen krächzenden Lautsprecher über dem gesamten Schienenbereich Friedhofstille herrschte, bestand für die im Schnee Dahinwankenden keine direkte Gefahr. Der besagte Lautsprecher gab seit unseres Haltes hier ununterbrochen einen Befehl nach einer unsichtbaren Lokomotive durch. Nach dreiviertelstündigem Rufen fand sich eine Co+Co Diesellok, unsere Retterin, an der Zugspitze ein. Unsere Elektrolok wurde abgekuppelt und abtransportiert. Sie wurde offenbar durch eingedrungenen Schneestaub betriebsunfähig. Die Diesellok schleppte dann unseren Zug in den Bukarester Nordbahnhof, die Uhr zeigte 15.45 Uhr. Mit fast 5 u. 1/2 stündiger Verspätung erreichte dann dieser Zug, der Orient Express Paris-Wien- Budapest- Bukarest, doch noch sein Ziel. Dieser unerwartete Wintereinbruch mit seinen hohen Schneefällen, begleitet von heftigen Stürmen, brachte den gesamten Verkehr in vielen Landesteilen völlig zum Erliegen. Bedrängt durch diese Zustände musste der Staatsrats- Vorsitzende in einem Erlass den Notstand erklären.Dieser wurde dann auch in den Zeitungen vom 14. März 1973 veröffentlicht.