Der Lokomotiv-Zug 1923
Ich erinnere mich noch sehr genau an dieses aufregende Ereignis. Es war in jenen Kindheitstagen als man noch das Jahr 1923 schrieb, damals, als 17-jähriger Junge, stand ich auf dem "Perron" , dem
einzigen, überdachten langen Bahnsteig des "Großen Bahnhofs" in Kronstadt und wartete auf meinen abendlichen kleinen Bummelzug. Dieser sollte mich heimbringen in die große Gemeinde Zeiden, die17 km
von hier entfernt, jenseits am Rande der kleinen Burzenländer Hochebene,am Fuße des langgestreckten, 1294 m hohen Zeidner Berges liegt. Ich hatte noch sehr viel Zeit bis dieser Zug auf dem 3-ten
Gleis bereitgestellt werden sollte, so rund einen halben Tag. So viele Stunden mit Freude auf einem verrußten Bahnhof zu verbringen, war kennzeichnend für mich, denn zu sehen gab es immer sehr viel
und manchmal auch etwas ganz und gar ungewöhnliches. Es war gerade Mittag vorbei und ein sonnig-blauer Himmel wölbte sich über nah und fern. Auf der linken Seite jenseits des Bahnhofgebäudes, das
sich wie die Gleisanlagen lang hinstreckte, lagerte Rauch und Dunst in dichten Schwaden über dem Schienengelände, herrührend von vielen Lokomotiven verschiedener Bauarten, die dort abgestellt waren.
Befreit von Arbeit und gemütlich qualmend, dösten sie still im eigenen Dunste dahin. Es waren Lokomotiven der Baureihen 140 (1D)=G8/2, 230 (2C)=P8 Lieferungen aus Deutschland und der Baureihen 324
(1C1) und 327 (2C), letztere beiden, einstige ungarische Lokomotiven, sowie die beiden Nebenbahnloks der Baureihen 370 und 375. Es war dieses ein Eldorado, das ich des öfteren durchstreifte und aus
dem ich auch niemals verjagt wurde, so seltsam dies auch klingen mag.
Die ungarischen und rumänischen Werkmänner sahen mit staunen, daß ich zeichnete. Ich zeichnete Lokomotiven, so wie sie dastanden, nebeneinander, hintereinander, Kopf an Kopf oder abweisend, nur die Rückseite des Tenders zeigend. Auf diesen konnte man dann deutlich einen großen Ölbehälter (Masut) erblicken. Diese Leute sprachen gleichzeitig in drei Sprachen auf mich ein, schlugen mir vor Begeisterug auf die Schulter und jeder einzelne empfahl mir auf seine Weise, ich müsse unbedingt "seine" Lok mit der und der Nummer, sie sei auch gerade neu gestrichen, abzeichnen. Und sie ließen mich gewähren. Ich konnte überallhingehen, und zeichnen konnte ich so viel ich wollte. So bekam ich Einblick in diese schwarze Welt, die für mich Wunder bedeuteten und wo Öl und Kohle, Rauch und Ruß auf nie zu erklärende Weise besser als duftender Flieder rochen und süßer als Honig schmeckten. Nun um dieses Eldorado handelte es sich diesmal nicht. Ja- und der "Orient Express" erschien an diesem Tage auch nicht. Dieser kam sonst zweimal die Woche von Paris über Wien, Budapest. Er wurde fast immer von der ehemals ungarischen schlanken und großrädrigen Schnellzuglok der Reihe 327 geführt. Von langer Fahrt hielt er dann auf diesem Gleis mit verschnaufendem Atem, um dann ein neues Gespann zweier gedrungener Gebirgsmaschinen,aus der Reihe 140 (G8-2) zu erhalten. Diese beförderten dann mit wechselseitigen Auspuffschlägen die lange Wagenflucht hinauf und hinüber auf die Südseite der Karpaten. Dort in dem 74 km entfernten Cimpina angelangt, wurden die Maschinen abermals gewechselt. Diesmal wurde eine Lokomotive aus der Baureihe 231 (2C1-Deutschlandlieferung) vor den Zug gesetzt, mit der dann der Orient Express der Endstation Bukarest entgegen-brauste.
Es war stets ein besonderes Ereignis, wenn dieser Zug dann dastand, dicht vor den verwunderten Augen, mit Menschen darin, die glatte und blasse Gesichter hatten. Mann hörte fremde Laute und sah geringschätzig erstaunte Blicke jener Reisenden, die aus ihren offenen Fenstern auf das vor dem Wagen sich drängende Gewühl von hastendschwitzenden und unrasierten Menschen herabschauten. Und dann die langen Wagen, eigenartig beplankt, als seien sie aus braunem Holz, an deren Wänden lange, rotbeschriftete Schilder hingen. Diese einfachen, mit Sack und Pack beladenen Landmenschen, verhofften dann und wann und lasen mit Bedacht die Städtenamen dieser Tafeln. Die Worte aber "Express" und "Europa" erregten scheue, achtungsbietende Bewunderung. Bedeuteten doch diese Namen für die hier Einheimischen eine fremde, verschlossene Welt. Diese kleine, eben angekommene Vertreterin jener größeren, wo alles besser, schöner und auch teurer ist, hielt 15 Minuten, um dann eiligst davon zu fahren, hart und gefühllos Menschen zurücklassend, die für kurze Zeit wenigstens, mit sehnsuchtserfüllten Blicken, an ihr teilnehmen durften. Nein- dieser war es auch nicht- diesmal war es etwas für mich unerhört Besonderes. Aus Dunst, Qualm und Rauch, drang ein dumpfes Dröhnen und Schnaufen, das kaum von der Stelle kam und ortsfest gebunden schien. Anfangs verschwommen und nicht recht erkennbar, dann aber sich langsam nähernd, schob sich etwas heran, das mir den Atem stocken ließ. Sichtbar wurden zuerst hohe Rauch- und Dampfwolken, die, die über den Gleisen lagernde Dunstschicht turmhoch durchstießen. Ja- so begann es, dieses so einmalige Geschehen, das für`s ganze Leben in meinem Gedächnis haften blieb, etwas Beängstigendes näherte sich da heran und heraus aus dem qualmig Ungewissen.
Es dröhnte und rumorte langsam näher und näher. Aber immer noch blieb das Ganze schemenhaft und nur in Umrissen erkennbar. Aber dann,dann konnte man sehen, wie zischend und jaulend der Dampf waagerecht und in Wolken über die Schienen und mit donnerndem Brüllen senkrecht in die Höhe schoß. Die Luft erzitterte, ein Inferno tat sich auf. Es bebten die Schienen, es bebte der Bahnsteig und es drehte sich der Himmel in wirbelnden Rauch- und Dampfmassen. Fassungslos und vor Schreck des Atmens kaum mächtig, schob sich da ein Gigant heran, ein Zug aus lauter Lokomotiven,ein Lokomotiv-Zug. Unter außerordendlicher Kraftentfaltung, voran mit vierfachem Dröhnen,fuhr langsam eine lange Reihe,ungewöhnlicher, nie gesehener Lokomotiven, über die ächzenden Schienen durch den Bahnhof. Zuvorderst an diesem Zugwunder stampften vier Henschel 1D Gebirgsmaschinen, die gleiche Bauart wie sie am Schuppen stand. Wie wütend schnaubende Stiere, in weißen Atem sich hüllend, kamen sie daher ihre nachfolgenden "wehrlosen" hochbeinigen Geschwister beschirmend. Diesem fauchenden, vorüberrollendem Dampfkraftwerk auf Schienen folgten still und stumm Lokomotive auf Lokomotive. Ruhig drehten sich weißwandige Radreifen, rotleuchtende Radsterne und hinter hoch und schrägliegenden Zylindern blitzte ein Kraftgestänge nach dem andern an den großgewordenen Augen des Sprachlosen vorbei. Gekrönt wurden diese Kolosse, die ein so elegant-leichtfüssiges Triebwerk hatten, von langen Kesseln, unter denen viel Luft und flirrend-kreisende Räderspeichen zu sehen waren. Ein stämmiger Schornstein und eine spitze, ernst und schwarz funkelnde Rauchkammertür, unter der vier Kolbenstangen herausragten, begrenzten diese großen schwarzgrünen, leuchtend gelb bandagierten Leiber.
Das Führerhaus war leer und viele Teile in ihm in orangegelbes Ölpapier verpackt- eine Lokomotivlieferung der Baureihe 231 aus Deutschland. Voller Spannung stand ich an der langen Bahnsteigkante, konnte mich vor Überwältigung kaum rühren und sah dieses unerhörte Schauspiel, das vor meinem vor Aufregung heißgewordenen Gesicht sich abspielte und langsam vorrüberrollte. Zehn oder zwölf dieser schnittigen Flachland-Renner, genau weiß ich das nicht mehr, denn an`s Zählen war nicht zu denken, glitten ohne Dampf und beinahe lautlos in funkelndem Blinken und leuchtenden Farben, in einer Paradefahrt ohnegleichen an wartend-gaffenden Menschen vorbei. Leise knarrten die Schienen von den Hunderttonnenlasten. Und wieder näherte sich ein vierfaches Dampfgebrüll, das mit höllischem Auspuffdonner,mit stiebendem Dampf und Staub, diesen einzigartigen Zug abschloß. Noch lang starrte ich in jene Richtung, in der dieser,von je 4 Gebirgslokomotiven gezogen und geschoben und 8 mitwandernden Rauch- und Dampfsäulen begleitet, im großen Bogen der Südkurve verschwand. Ein sich immer weiterentfernendes Dampfgeheul drang an die ungläubigen Ohren. Sich langsam auflösende Rauchwolken erinnerten daran, was noch vor wenigen Minuten auf diesen Gleisen, die wieder friedlich, von der ungewöhnlichen Last befreit, leer und einsam in der Sonne glitzerten, Wirklchkeit war. Acht Henschel-Maschinen (G8-2) führten in nun beginnender höchst anstrengender Bergfahrt, ihre jungfräulichen Geschwister aus dem Hause J.A.Maffei, durch eine herrliche Gebirgslandschaft. Bergwärts dröhnend, hallte das Echo vom Rhytmus der wild arbeitenden Lokomotiven. Durch den großen Kehrtunnel wurde der über 1 ooo m hohe Predealpass erklommen.
Vorbei ging es an ragenden Felswänden und an den schneegekrönten 1 500 m höher, herableuchtenden Karpatengipfel.In langen Gefälle- Trassen ging`s dann hinab und hinaus in die tellerflache,heißbrütende Tiefebene der großen Walachei, dem eigentlichen Wirkungsbereich dieser "Maffei- Pazifik-Maschinen". Heute noch kann man sie sehen, diese schmucken 2C1, 4-ling Schnellzuglokomotiven, die bestens gepflegt ihren Dienst tun und die in stolzer Haltung, bedingt durch die hohe Kessellage, mit großer Geschwindigkeit in glühender Hitze oder in beißender Kälte, mit langen, stets überfüllten Schnellzügen durch die Walachei brausen. Am Führerhaus blinken unter anderm von einem blanken Messingschild einige Worte und drei große Zahlen: "Viteza maxima 126 km pe ora". Immer noch stand dieser Junge da, an der Bahnsteigkante, sinnend und traurig- es war vorbei, dieses unfaßliche Erlebnis, dessen Inhalt die Grenze seiner Phantasie sprengte. Nichts war mehr da, es schien als seien die Gleise für immer vereinsamt, als sei der Bahnhof nach so viel tobendem Leben, ausgestorben. Wehmut, gepaart mit schmerzlichem Verlust machten sich fühlbar, nach der eben verflogenen wildschönen Symphonie aus Stahl und Dampf. Es trieb mich ein unbändiger Drang schnell heimzukommen, um erzählen zu können von dem Unerhörten, was sich da zugetragen, und um das Verlangen zu stillen, das Erlebte zeichnerisch festzuhalten, der Vergangenheit zu entreißen- um diese glückhafte Freude wieder zu erleben um dieses Erlebnis sozusagen ständig vor Augen zu halten. Der Bleistift flog bald in fieberhafter Eile und es entstanden Skizzen und Bilder, ansprechend wohl und doch kaum ganz befriedigend. Denn diese Zeichnungen konnten niemals dieser in den Ohren noch dröhnend- lebendigen Wirklichkeit standhalten.
Aber es entstand da auch etwas, was die Eingeweihten schon lange wussten und kannten: Eine närrische Liebe zur Eisenbahn, zur Dampflokomotive und der sie umgebenden Natur. " Es ist hoffnungslos, aus diesem Jungen kann es nur einen Maler geben!", so sagten meine Eltern. Später begann dann das Ringen um Gültiges und Bleibendes, das ewig auf`s Neue sich formt und entwickelt und durch den inneren Funken weiter leben wird, auch wenn es keine Dampflokomotiven hier bei uns in Europa mehr geben wird. Die damals um 1920 bis 1924 entstandenen Zeichnungen, auf Blättern und in Skizzenbüchern, gingen beim Einmarsch der Russen in Rumänien im August 1944 bis auf ein Heft allesamt verloren, es war eine kleine Kiste voll. Meine Mutter verbrannte diese mit vielen andern wertvollen Büchern, aus Angst vor den Russen in unserem eigenen Backofen.